Visiodrom
Farbexplosionen im Wuppertaler Gaskessel
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Das Visiodrom wird immer wieder zum Schauplatz von Musikvideos.
Von Caroline Büsgen
Wuppertal. Nichts muss so bleiben, wie es ist. Und weil das so ist, ist auch der Gaskessel in Heckinghausen kein Gaskessel mehr. Das war er zwischen 1957, als er zum ersten Mal mit 60 000 Kubikmetern Ferngas befüllt wurde, und 1997, als Ferngasleitungen das Speichern von Gas überflüssig machten. Da stand er, der Gasspeicher, mit einem ähnlichen Schicksal wie sein Pendant in Oberhausen-Osterfeld, das allerdings bereits 1929 in Betrieb gegangen war und bis 1988 artig seinen Dienst versehen hatte. Jetzt sind die Zeitzeugen der Industriekultur imposante Wahrzeichen ihrer Heimat, Veranstaltungs- und Ausstellungsräume von besonderer Dimension.
Kunst trifft Musikkultur: Dass die Gasspeicher – umgangssprachlich Gasometer genannt – einmal Kulisse für Videos der aktuellen Musikszene werden würden, hatten sich in den Zeiten der industriellen Hochkultur wohl die Erfinder der Gasspeicher, das Unternehmen MAN und August Klönne, kaum träumen lassen. Inzwischen sind große Namen der Rapper- und Techno-Szene untrennbar mit der Stadt Wuppertal und ihrem Gasometer in Heckinghausen, dem Visiodrom, verbunden.
Von Nacpancy bis zu Electric Callboy
Zu den Namen mit internationalem Renommee gehören der Rapper Nacpany, Samy Deluxe, Johnny Tupolev oder Electric Callboy. Sie alle schätzen die Kunst der visuellen und akustischen Installation: Lichtstrahlen tasten sich sanft suchend über die Mattscheibe, bläuliche Blitze zucken, rotierende Firmamente zerfasern in Prismen, Lichtkristalle explodieren und zerschmelzen zu brodelnden Farbenmeeren. Die fulminanten Licht- und Farbexplosionen korrespondieren mit knallharten Beats, hüpfen, marschieren, mäandern und bombardieren ihre Umgebung, versinken in Nebel- und Rauchschwaden. Rotierende Sonnensysteme und farbig-kristalline Kaleidoskope bieten mystische Kulissen für die Botschaften der Musikkünstler der Gegenwart. Wut und Empörung, Kritik und Wünsche – die Rapper und Hip-Hop-Künstler sind Mahnende, Sehende, Warnende. Sind Kritiker und Visionäre, klagen an und entwerfen Utopia.
Sie rächen, sie bauen, sie dichten und denken, sind die Robin Hoods der Gegenwart. Ihr Sherwood Forest steht zeitweilig in Wuppertal-Heckinghausen. Hier entwerfen sie Endzeit-Szenarien, hier tanzen Hexen und Vampire, hier tanzt man auf dem Vulkan.
Der Wuppertaler Rapper Samuel Scholz etwa hat hier das Video zum Song „Skywalker“ gedreht. Fantastische Effekte und eine surreale Mischung aus Kameraeinstellungen nehmen die Betrachter mit in die Klang- und Textwelt des Rappers Nacpany, bunt wie ein Kaleidoskop, kraftvoll, dynamisch wie der Mensch Samuel Scholz. Ein kluger, empathischer, eloquenter, junger Mann, der mit seinen 25 Jahren die Messlatte auch für sich selbst ganz schön hoch gehängt hat, und den seine Behinderung wenig schert.
Das Visiodrom im Gasometer in Heckinghausen ist einer der Drehorte für das Video zu „Skywalker“ gewesen, ein Song aus dem aktuellen Album „Vodka“. Der Wuppertaler Rapper ist überaus begeistert von der Zusammenarbeit zwischen ihm, seinem Produzenten Marc Sokal, dem Videoproduzenten Vlado Slavov, dem Geschäftsführer des Visiodroms, Faton Zenuni.Internationales Renommee hat die Band Johnny Tupolev. Namensverwandt und möglicherweise Synonym für die Philosophie: Das erste Überschallflugzeug der Welt war eine Tupolew. Entwickelt wurde sie vom Konstruktionsbüro des sowjetischen Flugzeugkonstrukteurs Alexei Andrejewitsch Tupolew. Zum Team gehören Tom Berger (Gesang), Jens Grebe (Bass) und Dietmar Noack (Schlagzeug).
Die Band ist unter Vertrag bei der US-amerikanischen Plattenfirma Top International und ihr aktueller Song „Desperate“ ist im und am Gasometer in Wuppertal entstanden: Unheimlich und bedrohlich rollen in der Dunkelheit Offroader durch den Sand, schwer stapfen Stiefel, gleißendes Licht zeichnet die Konturen des Gasometers scharf.
Das Video wurde im Herbst 2020 aufgenommen, und kein Geringerer als der Videoproduzent Frank Petzold zeichnet für die Performance verantwortlich. Sein Name bürgt für Qualität: Eine Oscar-Nominierung für die Special Effects in der Neuverfilmung des 1928 erschienenen Kriegsdramas „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque lässt aktuell die Filmwelt aufhorchen.
Tupolev-Fans dürfen sich schon jetzt auf den August freuen, denn dann werden acht Shows im Inneren des Visiodroms unter der Regie von Frank Petzold stattfinden, die weltweit einzigartig sein sollen. „Mindreader“ ist der Song, der ebenfalls Wuppertaler Flair atmet – auch er zeigt den rotierenden Plafond des Visiodroms, geheimnisvoll, bedrohlich. Die Band Electric Callboy evoziert in dem Song Endzeitstimmung – verzweifelte Versuche, von der Geliebten loszukommen, die einen um den Finger gewickelt hat, eigennützig, besitzergreifend, destruktiv. Ebenso kommt auch der Entwurf des lyrischen Ichs daher: bedrohlich, bedrohend, endgültig.