„Sie müssen kämpfen wollen“

Afghanistan: Kabul vor dem Fall? US-Geheimdienst warnt – Biden reagiert kühl

Konflikt in Afghanistan
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Ein afghanischer Polizist steht am Stadtrand von Masar-i-Scharif Wache.

Nach zwanzig Jahren Einsatz hat USA beinahe alle seine Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Nun reagiert Präsident Joe Biden überraschend neutral angesichts neuer Unruhen im Land.

Washington/Kabul – Seit dem Abzug des US-Militärs aus dem Krisengebiet Afghanistan* im Mai haben die militant-islamistische Taliban* massive Gebietsgewinne verzeichnet. Angesichts des schnellen Vormarsches auch im Norden Afghanistans könnte die afghanische Hauptstadt Kabul einem Zeitungsbericht zufolge viel schneller in die Hände der Aufständischen fallen als von den USA zunächst angenommen.

Entgegen der Schätzung von US-Geheimdienstmitarbeitern im Juni, ein Zusammenbruch würde in einem Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten nach Truppenabzug erfolgen, berichtet die Washington Post am Dienstag (Ortszeit), Kabul könnte bereits in 30 bis 90 Tagen unter die Kontrolle der Taliban geraten. Dabei beruft sich die Zeitung auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten.

Präsident Biden verteidigt Abzug trotz anhaltender Unruhen in Afghanistan

Trotz der sich rasant verschlechternden Sicherheitslage im Krisengebiet, verteidigt US-Präsident Joe Biden* erneut den Abzug des Militärs. Die Afghanen müssten nun selbst „um ihren Staat kämpfen“, sagte er am Dienstag im Weißen Haus in Washington. Er sieht die afghanischen Streitkräfte den Taliban überlegen, auch in Bezug auf die Truppenstärke. „Aber sie müssen auch kämpfen wollen“.

Der US-Präsident appellierte an die politische Führung in Kabul, an einem Strang zu ziehen. „Ich glaube, sie beginnen zu verstehen, dass sie an der Spitze politisch zusammenkommen müssen.“ Er werde jeden Tag über die Lage unterrichtet, ergänzte er und versprach, die USA würden die afghanischen Streitkräfte weiterhin finanziell und militärisch unterstützen. Für das nächste Jahr sind dafür im Haushaltsentwurf 3,3 Milliarden US-Dollar (2,8 Milliarden Euro) eingeplant.

Mit Blick auf den von ihm angeordneten Truppenabzug fügte der Präsident hinzu: „Ich bedauere meine Entscheidung nicht.“
Inzwischen ist der Abzug der rund 2500 in Afghanistan stationierten US-Soldaten zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Bis zum Monatsende soll dieser komplett beendet sein. Auch die deutsche Bundeswehr* und die Soldaten anderer NATO-Länder haben Afghanistan bereits verlassen.

Taliban nehmen weitere Provinzstadt ein – Abzug des US-Militärs fast beendet

Unterdessen nahmen die Taliban am Dienstag die Stadt Pul-i Chumri in der nördlichen Provinz Baghlan ein. Dabei handelt es sich um die achte Provinzhauptstadt, die die Aufständischen in kurzer Folge unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die Regierungskräfte haben – Provinzrat Firusuddin Aimak zufolge – am Dienstagabend (Ortszeit) die Stadt ohne weiteren Widerstand verlassen. Die Stadt Pul-i Chumri, in der rund 250 000 Menschen leben, liegt an der wichtigen Überlandstraße zwischen Kabul und Masar-i-Scharif, wo auch die Bundeswehr bis zum Abzug noch einen Stützpunkt hatte. Auch die Bundesregierung hat aufgrund anhaltender Unruhen die Abschiebungen nach Afghanistan vorerst ausgesetzt*.

Seit 1996 hatten die Taliban weite Teile Afghanistans unter Kontrolle, bis 2001 die von USA geführte Intervention begann. Das ursprüngliche Ziel des internationalen Einsatzes unter dem Namen „Operation Enduring Freedom“ war das Zurückschlagen der Terrorgruppe Al-Kaida*. Dieses sei längst erreicht, weshalb Biden den Abzug des US-Militärs aus Afghanistan befohlen habe. „Er hat als Oberbefehlshaber entschieden – und das sind schwierige Entscheidungen“, teilte Bidens Sprecherin Jen Psaki am Dienstag (Ortszeit) mit.

Angesichts der anhaltend lodernden Unruhen im Land, warnte der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang
Ischinger, indes vor einem erneuten Eingreifen des Westens in Afghanistan. Ob sich dort „künftig wieder die Schreckensherrschaft der Taliban etabliert, muss für die Nachbarn und regionalen Mächte als Gefährdung der Stabilität mindestens genauso große Besorgnisse erregen, wie für die transatlantischen Partner“, sagte Ischinger der Rheinischen Post vom Mittwoch. Dabei seien vor allem auch die Nationen China, Indien, Pakistan, Russland und Iran und damit der UN-Sicherheitsrat gefragt, denn es gehe um zentrale Fragen regionaler Stabilität. (dpa/klb) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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