Weniger Verbrechen aber mehr Angst
Verwirrung bei „Maischberger“: Lügt die Kriminalitäts-Statistik oder das Bauchgefühl?
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Am Mittwochabend geht es bei „Maischberger“ ans Eingemachte: Ist Deutschland noch sicher? Zur Klärung dieser Frage scheinen selbst Statistiken nicht mehr brauchbar zu sein.
Berlin - „Die deutsche Verwaltung funktioniert sehr effizient, wenn es darum geht, Steuerbescheide zuzustellen. Bei Drogendealern scheinen die Behörden oft ohnmächtig“, zitiert Sandra Maischberger zu Beginn ihrer Sendung am Mittwochabend den amtierenden Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Das Thema der Talk-Show: „Angst auf der Straße: Muss der Staat härter durchgreifen?“
Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) greift Spahn direkt hart an. Es handle sich um „eine übertriebene Feststellung von einem Mann, der von der Situation nicht viel weiß.“ Spahn werfe der Union zu Unrecht vor, Jahrzehnte lang unzulängliche Innenpolitik gemacht zu haben. Es gebe Schwachstellen, gibt Baum zu, aber man dürfe nicht übertreiben. Freiheit sei nun mal mit Risiko verbunden, stellt der Liberale fest.
Wahrheit statt Statistik?
Da widerspricht ihm Philipp Amthor (CDU), der jüngste Abgeordnete im deutschen Bundestag. Man müsse das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung ernst nehmen und daraus Rückschlüsse ziehen, findet er. In seinem Wahlkreis an der polnischen Grenze könne er den Landwirten nicht mit Statistiken kommen. Gute Politik fange „nicht mit dem Betrachten der Statistiken an, sondern mit der Wahrheit.“ Ein skurriler Satz. Empörung erntet Amthor aber nicht - denn die Sendung dreht sich ja genau darum: Statistiken und Befragungen der Menschen zeichnen zwei verschiedene Bilder des gleichen Landes.
Es geht also um subjektives Empfinden. Der Kriminologe Thomas Felten warnt deshalb davor, die Ängste der Menschen falsch zu interpretieren. Nur weil sich jemand vor dem dunklen Wald fürchte, sei der Wald nicht gefährlich. Es seien die gesellschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre, die die Menschen zutiefst verunsichern, ist sich Felten sicher. Seine Theorie: Angst vor Globalisierung und vor dem Zerfall der EU wirke sich unterbewusst auf Ängste vor Kriminalität aus.
„Die Gesellschaft ist brutaler geworden“
„SUSI“ nennt man das bei der Polizei, erklärt der Polizei-Gewerkschafter Bodo Pfalzgraf. „SUSI“ stehe für „subjektives Sicherheitsgefühl“. Um das zu verbessern fahre man als Polizei bisweilen in einer Art Placebo-Manöver durch Straßen - zumindest wo noch genügend Personal vorhanden sei. Die Frage nach ausreichender Polizeipräsenz spitzt er zu: „Die Politiker stellen sich hin und sagen, die Drogenkriminalität sei zurückgegangen. Na klar! Wenn man keine Polizei mehr in den Görlitzer Park schickt, dann sinkt die Drogenkriminalität statistisch.“ Wo kein Kläger, da kein Richter also.
Über die schlechte Ausstattung der #Polizei ärgert sich #GerhartBaum seit Jahren – doch statt besserer Ausbildung werden #Bürgerrechte beschnitten...#InnereSicherheit #Polizei #FreiheitoderSicherheit#maischberger pic.twitter.com/uIuJb9bKRn
— Maischberger (@maischberger) 11. April 2018
„Evidenz-basiert, aber auch vom Bauchgefühl her“ sei er anderer Meinung als Felten, sagt Pfalzgraf. „Ich glaube, die Gesellschaft ist brutaler geworden.“ Die Vermischung von Evidenzen, Statistiken, Bauchgefühlen und Eindrücken bestimmt den ganzen Abend: die Gäste scheinen mitunter selbst verunsichert: kann man sich auf Statistiken mehr verlassen, als auf die eigenen Eindrücke? Ex-Minister Baum wendet ein: habe es nicht immer auch Gewalt gegen Polizisten gegeben? Er wendet sich gegen eine „Früher-war-alles-besser-Rhetorik“.
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Messerstechereien in den Medien
Also will Gastgeberin Maischberger endlich Butter bei die Fische: Leben die Menschen in Deutschland heute sicherer oder unsicherer als vor fünf Jahren? Falls sie sich eine kohärente Antwort erhofft hat, wird sie enttäuscht - jetzt wird es erst richtig chaotisch. Die Kriminalität habe abgenommen, sagt Felten. Die größte Gefahr, Opfer einer Straftat zu werden lauere ohnehin „in den eigenen vier Wänden“.
„Den Zahlen nach leben die Menschen heute sicherer“, gibt Philipp Amthor ihm recht. Es gebe aber einen Anstieg „ungleicher Sicherheit“. Er spielt auf sogenannte „No-Go-Areas“ an. Dann sagt er, man habe „zunehmende Messerstechereien in den Medien“, womit er wohl unabsichtlich das große Problem der Diskussion herausstreicht: bilden Medien und Statistiken die Realität ab? Wem kann man noch glauben, wenn nicht Statistiken?
„German Angst“
Also kommt in der Sendung auch Kiosk-Besitzer Hayko Migirdicyan zu Wort, der behauptet, Dealer in seiner Gegend von Köln würden am Nachmittag schon wieder bei ihm aufkreuzen, nachdem sie erst am Morgen verhaftet worden seien. Die Polizei tue ihm leid. Das glaubt Unternehmerin und CDU-Mitglied Emitis Pohl gern: es gebe No-Go-Areas in Deutschland, und sie habe kein Verständnis für die „German Angst“ vor Überwachung. Sie vermisse die Kameras, die in London an jeder Straßenecke hängen. Seit der Kölner Silversternacht 2015 fühle sie sich nicht mehr sicher auf der Straße.
"Die Polizei tut mir am meisten leid!"
— Maischberger (@maischberger) 11. April 2018
Der Kölner Kioskbesitzer Hayko #Migirdicyan über das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Kriminellen und der Polizei.#Polizei #Sicherheit #Köln #Ebertplatz #maischberger pic.twitter.com/yZuOgxlr8H
Die Silversternacht sei deshalb so prägend gewesen, weil die Täter Fremde waren, behauptet Thomas Felten. Er ist sich sicher, dass bei jedem Kölner Karneval mindestens genauso viele sexuelle Übergriffe stattfänden, dass diese nur eben nicht zur Anzeige gebracht würden. „Gewagt!“ entfährt es Sandra Maischberger unwillkürlich. Wie dem auch sei, Emitis Pohl ist sich sicher: Deutschland ist unsicherer als vor zwanzig Jahren. Als Teenagerin habe sie sich sicher gefühlt, doch ihre Tochter würde sie heute nicht mehr nachts allein durch Hamburg gehen lassen.
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Es bleibt: Ratlosigkeit
Das grundlegende Problem des Abends aber steht einer lösungsorientierten Diskussion im Weg: solange man sich nicht einigen kann, ob Statistiken aussagekräftig sind, und wenn nicht, worauf Innenpolitik dann fußen sollte, ist das Erdenken konkreter Maßnahmen schwierig.
Subjektivität spielt eine große Rolle. Einmal fragt Maischberger: „Ist das denn dann immer noch gefühlte Angst oder schon reelle Angst?“ Diese Frage, aber auch die ganze Sendung, lassen den Zuschauer ratlos zurück.
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Laurenz Gehrke