Sprache der Soldaten, Rückhalt vom Kanzler: Verteidigungsminister:in muss man können. Christine Lambrecht und ihre Vorgänger konnten oft nicht. Vier Minen im Ministerium, auf die Pistorius nicht treten darf.
Berlin – Mit knappen Worten verabschiedete sich Christine Lambrecht (SPD) am Montag aus ihrem Amt als Verteidigungsministerin. Eine kurze, glücklose Zeit geht für die einst profilierte Justiz- und Innenministerin zu Ende. Ohne Gespür, beratungsresistent und desinteressiert – das sind nur einige der Vorwürfe, mit denen sich die Vertraute von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) konfrontiert sah.
Doch zur Wahrheit gehört, dass das Bundesverteidigungsministerium als Schleudersitz gilt. Fakt ist auch, dass die russische Invasion in der Ukraine das Scheinwerferlicht auf eben jenes Ministerium richtete, das in den vergangenen Jahrzehnten stiefmütterlich behandelt wurde. Lange Zeit wurde Sicherheitspolitik vor allem im Kanzleramt gemacht – und jahrelang wurde an der Bundeswehr gespart. Der letzte Verteidigungsminister, dem man ein gutes Zeugnis ausstellte, war Peter Struck (SPD), und das war 2002 bis 2005. Jetzt ist das Verteidigungsministerium plötzlich so wichtig wie zuletzt zu Zeiten des Kalten Krieges.
Die Schuld für ihr Scheitern nun allein bei Lambrecht zu suchen, ist daher zu eindimensional. Vielmehr wirft das regelmäßige Stolpern von Politiker:innen, oftmals wegen persönlicher Fehltritte, ein Schlaglicht auf die Frage: warum eigentlich? Die Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA hat dazu mit Sönke Neitzel, Deutschlands derzeit einzigem Professor für Militärgeschichte, gesprochen. Der konstatiert: „Auch, wenn die Benennung von Christine Lambrecht der Tiefpunkt der deutschen Verteidigungsministerinnen und -minister der vergangenen 30 Jahre ist, ist es keine Neuigkeit, dass Leute kenntnisfrei in dieses Amt kommen – und es gar nicht haben wollen.“
Schleudersitz im Verteidigungsministerium: Von Scharping über Guttenberg zu Lambrecht
Lambrecht-Rücktritt: Stolperfalle Bundesverteidigungsministerium – Nachfolge ist eine Überraschung
Der Historiker nennt im Gespräch vier Gründe, die das Verteidigungsministerium zur Stolperfalle machen. Auch für Lambrechts Nachfolger. Denn Dienstagfrüh sickerte die entscheidende Information an die Öffentlichkeit durch. Boris Pistorius (SPD), der niedersächsische Innenminister, soll neuer Bundesverteidigungsminister werden. Eine überraschende Personalie, mit der Bundeskanzler Scholz das Paritätsprinzip – also die gleichmäßige Besetzung von Männern und Frauen – in seinem Kabinett zumindest vorerst aufgibt.
Doch die Zeit drängt, um Scholz‘ Versprechen der „Zeitenwende“ in der Verteidigungspolitik einzulösen. Ein desolater Zustand der Truppe konnte in Friedenszeiten mit hochgezogenen Augenbrauen übergangen werden, in Kriegszeiten wirkt es grotesk. Noch in seiner „Zeitenwende“-Rede sagte Scholz vor einem knappen Jahr: „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es, und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa.“ Davon ist man Stand Januar 2023 weit entfernt. Richten soll das nun der Neue.
Militärhistoriker nennt vier Gründe, warum das Bundesverteidigungsministerium eine Stolperfalle ist
Einfach dürfte es nicht werden. So betont auch Historiker Sönke Neitzel, dass im Bundesverteidigungsministerium gleich vier Dimensionen zu beachten seien, die den Bendlerblock zu einer besonderen politischen Herausforderung machen.
Internationale Dimension: Das Bundesverteidigungsministerium ist ein internationales Haus, insbesondere durch die enge Verquickung zu der Nato. Damit einher, gehen vielschichtige, komplexe Aufgaben wie „in die Nato wirken, internationale Allianzen schmieden und gleichzeitig die deutsche Position durchsetzen“, so Sönke Neitzel. Heißt: Verteidigungsminister:innen müssen sowohl innerhalb Deutschlands als auch auf der globalen Bühne agieren.
Kabinett-Dimension: Die Loyalität zum Bundeskanzleramt spiele in diesem Amt eine besondere Rolle. „Wer nicht den vollen Rückhalt hat, hat es schwer, das eigene Haus voranzubringen. Gerade in der Vergangenheit war es für viele Verteidigungsminister herausfordernd, dass sie nicht die Rückendeckung von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel hatten.“ Denn Sicherheitspolitik wurde nach Ende des Kalten Krieges jahrzehntelang aus dem Kanzleramt orchestriert.
Größen-Dimension: Die Größe des Verteidigungsministeriums ist ebenfalls eine Besonderheit des Bendlerblocks. „Man muss ein riesiges Ministerium führen, mit einem nachgeordneten Bereich von 200.000 Soldatinnen und Soldaten. Es ist eben nicht nur das Ministerium, sondern ganz unterschiedliche weitere Arbeitsfelder, wie Krankenhäuser und Infrastruktur.“ Bedeutet: Verteidigungsminister:innen müssen nicht nur ihr eigenes Ministerium, sondern auch die Truppe anleiten.
Militär-Dimension: Der entscheidende Punkt laut Neitzel ist es, mit dem Militär selbst umgehen zu können. „Wenn man keine Kenntnisse hat, muss man sich diese aneignen, man muss die Sprache von Soldatinnen und Soldaten lernen und einen Bezug zum Militär finden. Wenn man auftritt und offensichtlich mit dem Militär fremdelt, ist es schwierig, in die Truppe zu wirken.“
Keiner, außer Manfred Wörner (CDU) (1982 bis 1988), habe in der Geschichte der Bundesrepublik alle vier Kompetenzen vereinen können, so Neitzel. Das aktuelle Scheitern von Christine Lambrecht sei auch für Scholz eine politische Niederlage. Doch wie kann die „Zeitenwende“ im Bundesverteidigungsministerium jetzt aussehen? „Alle Regeln, die die Bundeswehr behindern, sind menschengemacht. Menschen können sie ändern. Doch der politische Willen muss da sein. Wenn Scholz will, dass die Deutschen einsatzbereite Einsatzkräfte haben, muss er jetzt die Weichen stellen und den Beweis erbringen, dass der Staat reformfähig ist. Das hängt an der Nachfolge von Lambrecht, aber auch am ganzen Kabinett.“
Jetzt ist Boris Pistorius im Bendlerblock, dem aktuell größten Sorgenkind des Kabinetts, an der Reihe. Bereits am Freitag findet auf der Airbase in Ramstein eine Konferenz der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe auf Einladung der USA statt, um über weitere Waffenlieferungen zu beraten – für Pistorius ein Amtsantritt ohne Aufwärmphase.
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