Erinnerung

Holocaust-Gedenktag: „Nein, es ist nicht vorbei!“

Im Interview erklärt Marie-Louise Lichtenberg unter anderem, warum für sie der Holocaust-Gedenktag wichtig ist.
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Im Interview erklärt Marie-Louise Lichtenberg unter anderem, warum für sie der Holocaust-Gedenktag wichtig ist.

Der 27. Januar ist internationaler Holocaust-Gedenktag. Für Marie-Louise Lichtenberg zählt das Erinnern.

Von Wolfgang Weitzdörfer

Frau Lichtenberg, warum ist der Gedenktag für die Opfer des Holocaust so wichtig?

Marie-Louise Lichtenberg:Es mag eine Floskel sein – aber er ist wichtig, damit dieses Kapitel nicht vergessen wird. Die Zeitzeugen sterben langsam aus. Auf meinen Recherchereisen durch Europa haben mir viele dieser Zeitzeugen gesagt, dass es nach ihrem Tod an den nachgeborenen Menschen ist, die Erinnerung lebendig zu halten. Und obwohl es heute auch noch Zeitzeugen gibt – die Zahl der Menschen, die den Holocaust leugnen oder verharmlosen, steigt an. Auch deshalb ist ein offizieller, weltweiter Gedenktag wichtig.

Sie organisieren eine Veranstaltung im Haus Eifgen mit – was ist geplant?

Lichtenberg:Es ist eine Kooperation zwischen der Kulturinitiative Wermelskirchen und dem Bergischen Geschichtsverein Abteilung Wermelskirchen. Ich wollte möglichst viele Menschen mit ins Boot nehmen, weil ich das alleine auch nicht stemmen kann. Das Haus Eifgen ist dafür sehr gut geeignet – wir bauen die Ausstellung noch einmal auf, die wir nach der Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz im Jahr 2008 gemacht haben. Es wird auch ein Film gezeigt, der von teilnehmenden Schülern gedreht wurde. Außerdem gibt es noch eine moderierte Gesprächsrunde mit den heute erwachsenen Schülern von damals.

Welchen Zweck hat die Erinnerung an geschichtliche Ereignisse ganz allgemein?

Lichtenberg: Um verstehen zu können, wie die Dinge sich entwickeln, um die Gegenwart und Zukunft gestalten zu können, ist es für uns Menschen wichtig, die Vergangenheit verstehen zu können. Allerdings haben wir auch die Erkenntnis, dass Menschen praktisch nie aus der Geschichte gelernt haben. Trotzdem ist das wichtig – denn wir müssen verstehen, wie der wieder aufkeimende Antisemitismus, die Reichsbürger, die Holocaust-Leugnung, wie all das entsteht und möglich wird. Um dann gegensteuern zu können. Gerade in der heutigen Zeit müssen wir die Demokratie schützen und auch verteidigen. Sie war und ist nicht selbstverständlich.

Was entgegnen Sie Stimmen, die sagen, dass es „nach 80 Jahren doch mal gut sein“ müsse?

Lichtenberg: Das, was den Menschen durch die Nazis und den Holocaust damals angetan wurde, wirkt sich auch auf deren Kinder und Kindeskinder aus. Dafür habe ich auch Beispiele in meinem Buch „Zwischen Glück und Grauen“ gesammelt. Nach Erscheinen des Buches nahm die Enkelin eines Nazis, der einer jüdischen Familie in der NS-Zeit das Haus geraubt hat, Kontakt zu mir auf und erzählte, dass es zu Hause unter strengen Regeln verboten war, über dieses Thema zu sprechen. Sie wurde 1967 geboren. Die Ur-Enkelin studiert in Köln Jura und hat mir gesagt, dass sie über diese Tat ihres Ur-Großvaters bis ins junge Erwachsenenalter nichts wusste. Und doch habe sie als Kind einen immer wiederkehrenden Traum gehabt: Eine Frau steht in der Küche, Steine fliegen durch die Fenster, die Frau duckt sich total verängstigt. Die Ur-Enkelin kennt diese Küche, es ist die Küche ihrer Großmutter. Damals lebte jedoch eine jüdische Familie in dem Dorf, und in der Reichspogromnacht 1938 geschah hier genau das. Nein, es ist nicht vorbei! Die Traumata übertragen sich auf die späteren Generationen. Und was ich Menschen auch sage, die meinen es sei vorbei, fragen Sie Eva Umlauf. Sie war zwei Jahre alt, abgemagert und todkrank, als die Rote Armee Auschwitz befreite. Sie lebt in München und leidet bis heute unter dem Erbe ihrer Vergangenheit.

Warum muss man gerade auch in den Schulen die Erinnerung pflegen?

Lichtenberg: Ich weiß aus meiner Lehrtätigkeit, dass sogar schon Fünftklässler auf mich zugekommen sind und mir gesagt haben: Ich habe da was gehört, da ist was gewesen, das muss furchtbar schlimm gewesen sein, aber ich weiß es nicht genau. Immer wieder haben mich diese jungen Kinder gedrängt, darüber zu erzählen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Gefahr besteht, wenn wir das nicht machen, sie vielleicht in die Fänge anderer Menschen gelangen, die sie dann für ihre Zwecke missbrauchen. Es heißt nicht umsonst: Erinnern bedeutet aufklären.

Wird das Ihrer Meinung nach in genügendem Ausmaß gemacht?

Lichtenberg: Aus meiner Sicht ja – es ist in den Lehrplänen schon früh verankert. In den siebten Klassen im Deutschunterricht, im Religions- und natürlich auch Geschichtsunterricht. Es liegt auch an den Lehrenden, wie sie darangehen. Aufpassen muss man – und das ist wirklich eine Gratwanderung -, dass wir die Kinder nicht mit diesem Thema überfüttern. Interessanterweise ist die Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz ja auch von den Schülern ausgegangen – die haben mich dazu gedrängt, das zu organisieren. Und das war, so wichtig es auch gewesen ist, wohl die größte Herausforderung in meinem beruflichen Leben.

Ab welchem Alter ist die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich sinnvoll?

Lichtenberg: Im Grunde genommen, sobald die ersten Fragen kommen. Es gibt sehr viel gute Literatur auch schon für Grundschulkinder. Ich weiß auch von Grundschulen hier in der Stadt, in denen das Thema bereits behandelt wird – etwa mit der Geschichte von Otto Weidt, der in Berlin eine Blindenwerkstatt geleitet hat und dort Juden beschäftigte und auch alles daransetzte, sie vor Verfolgung und Tod zu retten. Ich würde mich hier auf jeden Fall von den Kindern leiten lassen – also nur, wenn sie selbst mit Fragen kommen. Ich sehe das ja bei meinen Enkeln und dem Krieg in der Ukraine. Die wissen schon sehr viel darüber, sind bestens informiert – und stellen dann natürlich auch Fragen.

Wie wichtig sind hier außerschulische Projekte – und welche gibt es hier in der Umgebung?

Lichtenberg: Außerschulische Projekte sind meiner Meinung nach sehr wichtig, auch wenn ich selbst ja nicht mehr im Schulbetrieb bin. Aber aus meiner Arbeit mit der Kinder- und Jugendliteratur weiß ich, dass 2022 zwei mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Bücher sich genau mit dem Thema der NS-Zeit beschäftigen. Einmal „Dunkelnacht“ von Kirsten Boie in der Sparte Jugendbuch und die Graphic Novel „Der Duft der Kiefern“ von Bianca Schaalburg in der Kategorie Sachbuch. Das finde ich durchaus bemerkenswert.

Wie reagieren Ihrer Erfahrung nach die Jugendlichen darauf?

Lichtenberg: Aus Gesprächen mit Jugendlichen weiß ich, dass das Dritte Reich auch heute noch ein Thema von großem Interesse ist. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus sind die Kinder und Jugendlichen auch dankbar, dass sie Informationen darüber bekommen – ich gebe gerne auch Literaturhinweise mit, damit sie sich weiter damit beschäftigen können.

Was halten Sie von Projekten wie dem Instagram-Account von Anne Frank?

Lichtenberg: Davon halte ich sehr viel – wir müssen mit der Zeit gehen und auch andere Wege der Erinnerungskultur nutzen. Man kann solche Projekte und Ideen einsetzen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Es geht doch auch immer um Empathie – die Kinder und Jugendlichen sollen verstehen, mit dem Herzen verstehen, was es bedeutet, wenn ihre Mitschüler ausgegrenzt, beschimpft und bespuckt werden, nur weil sie eine andere Religion haben oder anders aussehen.

Veranstaltung

Am 27. Januar, dem internationalen Gedenktag der Opfer des Holocaust, findet im Haus Eifgen ab 19 Uhr eine Veranstaltung unter dem Motto „Erinnern bedeutet aufklären“ statt.

Neben der Ausstellung „Die Geschichte ist kaum zu ertragen“ über einen Besuch in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz, wird noch eine Filmdokumentation gezeigt. Anschließend gibt es eine Podiumsdiskussion. Entweder online oder telefonisch bei Margret Wischow vom Bergischen Geschichtsverein, 0 21 96 50 96.

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