Kinder brauchen mehr Zeit und Förderung
Immer mehr Grundschüler wiederholen eine Klasse
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Lehrermangel und Folgen der Pandemie: Die Zahl der Wiederholer in der Eingangsphase nimmt zu - auch in Remscheid.
Remscheid. Die Wiederholer in der Schuleingangsphase der Grundschulen werden mehr. Die Eingliederung von Migrationskindern und die Nachwehen der Corona-Zeit sorgen dafür, dass ohnehin volle Klassen weiteren Zuwachs erhalten. „Die freiwilligen Rücktritte haben deutlich zugenommen“, beobachtet Diana Ikemeyer, Vorstandsmitglied in der Lehrergewerkschaft GEW. Je nach Einzugsgebiet gibt es dabei Unterschiede.
Die Nachricht aus Ludwigshafen, wo an der Gräfenauschule wahrscheinlich 40 Erstklässler einen erneuten Anlauf nehmen müssen, sorgte für bundesweite Schlagzeilen. Davon ist Remscheid weit entfernt. Eine Statistik, die das Wiederholer-Thema unterfüttert, gibt es nicht, erklärt Schulrätin Heike Adolf, zuständig für den Primarbereich. Was sie aber hört aus den 17 Grundschulen, ist, dass einige Kinder aus pädagogischen Gründen zurückstellen würden, es aber nicht täten, weil in den nachrückenden Klassen die Kapazitäten fehlen, die Maximalstärke ausgereizt ist.
„Für Wiederholer ist oft einfach kein Platz mehr da“, bestätigt Claudia Becker, Leiterin der Grundschule Hasten. Der Hasten hat das Glück, dass es seit dem Schuljahr 2022/23 aufgrund seiner Anmeldungen im Eingangsbereich dreizügig werden konnte, mit Belegungen um die 21 Schüler. Paradiesische Zustände im Vergleich zu den vielen Klassen in Remscheid, die mit 30 völlig an die Decke stoßen. In solchen Klassen ist noch Luft nach oben, die anderswo fehlt.
„Kinder, die schon im Schulsystem sind und wiederholen, fließen in die Prognosen für zukünftige Klassenstärken nicht ein“, weiß Markus Eschweiler, stellvertretender Schulamtsleiter. Die ohnehin steigenden Herausforderungen für die Planer erhalten dadurch eine zusätzliche, unkalkulierbare Variante. In den vierten Klassen gibt es ganz wenige Sitzenbleiber, in den dritten einige. Die meisten Rücktritte treten in der Schuleingangsphase in den ersten beiden Jahren auf. Die zieht sich über zwei Jahre. Versetzung ist dort nicht gefährdet, Sitzenbleiben ausgeschlossen. Von der 1. erfolgt automatisch eine Weiterleitung in die 2. Klasse.
Bei Bedarf kann die Schuleingangsphase um ein Jahr verlängert werden. Der freiwillige Rücktritt auf Antrag von Eltern oder dem dringenden Rat der Lehrer ist mittlerweile nach Klasse 1 möglich. So sieht es der Masterplan Schule in NRW vor, der seit 2020 das Ziel verfolgt, die Qualität der Ausbildung von Tag 1 an zu erhöhen. Dazu zählt die Änderung, dass nicht erst am Ende der Eingangsphase eine Wiederholung erfolgen kann.
Erstklässlern fehlen durch Corona-Zeit Sozialkompetenzen
Diana Ikemeyer, seit 15 Jahren Lehrerin in Remscheid, erst in Mannesmann, dann Eisernstein, nun in Hasenberg, findet dies vernünftig. Die neue Vorgabe, während der Pandemie verabschiedet, erleichtert die Mängelbehebung. „Nach zwei Corona-Jahren mit eingeschränktem Kita-Betrieb kommen Kinder in die Schulen, denen Grundvoraussetzungen fehlen“, sagt Ikemeyer. Die Isolation daheim, der Mangel an Kontakten habe zu Defiziten im sozial-emotionalen Bereich geführt. Diana Ikemeyer stellt fest: „Die Kinder müssen erst lernen, sich in dem Gruppenverbund zurechtzufinden, emphatisch miteinander umzugehen.“ Das sei kein Makel der Erstklässler, aber die schwere Zeit zuvor habe es nicht erlaubt, die Voraussetzungen dafür zu erwerben.
Bevor an das Erlernen von Buchstaben und Zahlen zu denken sei, müsste Kindern Feinmotorik beigebracht werden, zum Beispiel wie man einen Stift hält. Individuelle Förderung sei mehr denn je gefragt. Die ist aber oft kaum leistbar angesichts der Klassenstärken und des Lehrermangels.
Für 2023/24 zählt Remscheid 1139 schulpflichtige Kinder. Bisher wurden 1101 an den städtischen Grundschulen angemeldet. Unter Berücksichtigung aller notwendigen Erweiterungen und Umbauten musste die Stadtverwaltung zunächst Zwischenlösungen generieren, um den Bedarf an Grundschulplätzen decken zu können. Die GGS Dörpfeld, Hasten, Reinshagen und Siepen bilden je eine Mehrklasse im Bestand. Am Stadtpark kann über die beschlossene Dreizügigkeit hinaus keine weiteren Kapazitäten anbieten.
Kommentar von Andreas Weber: Fehlendes Rüstzeug
Die Zahl der Wiederholer in allgemeinbildenden Schulen nahm 2021/22 außer in Bremen in allen Bundesländern deutlich zu. Das Statistische Bundesamt weist in einem Bericht Anfang dieses Jahres 155 800 Schüler aus, die freiwillig eine „Ehrenrunde“ drehten oder zuvor nicht versetzt worden waren. Nicht beinhaltet sind die ersten beiden Klassen, die in der Statistik unberücksichtigt blieben.
Aber auch der Übergang von der Kita in die Grundschule fällt heute schwerer als vor der Pandemie, obwohl die zweijährige Schuleingangsphase auf drei Jahre ausgedehnt werden kann. Corona hinterlässt Spuren. Nicht selten fehlt das Rüstzeug, um mit ABC und dem kleinen Einmaleins loszulegen.
Für Lehrer eine schwierige Situation. Denn Schwächen müssten eigentlich durch mehr zusätzliche individuelle Förderung wettgemacht werden. Die aber fällt oft aus, weil das Personal fehlt. Auch an dieser Stellschraube krankt das deutsche Bildungssystem.