Jahresabrechnungen
Gestiegene Energiekosten: Menschen suchen Hilfe
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In diesen Tagen werden die Jahresabrechnungen für Strom und Gas verschickt.
Von Sven Schlickowey
Remscheid. Dorothee Biehl und ihre Kollegen haben derzeit alle Hände voll zu tun. Seit Monaten schon registriert die Leiterin der Allgemeinen Sozialberatung bei der Remscheider Caritas deutlich mehr Beratungsbedarf von Menschen, die wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten Probleme haben, ihre Rechnung zu bezahlen. „Wir haben deswegen unsere Kapazitäten erhöht“, berichtet Biehl, die Beraterinnen würden nun mehr Stunden leisten. Denn ein Ende ist nicht in Sicht. Eher im Gegenteil.
Ende Januar und Anfang Februar verschicken viele Energieversorger die Jahresabrechnungen für Gas und Strom, damit dürften in vielen Haushalten teils enorme Forderungen für Nachzahlungen eintreffen. Auch in Remscheid. „Wir tauschen uns ja mit der EWR aus und wissen, dass das jetzt kommt“, sagt Dorothee Biehl. Vor allem Energie war im vergangenen Jahr deutlich teurer geworden, die Preiserhöhungen beim Gas lagen teils über 50 Prozent, beim Strom sogar noch höher.
Energie-Nachzahlungen im dreistelligen Bereich, das werden viele durch hohe Lebensmittelpreise und andere Kostensteigerungen gebeutelte Haushalte nicht stemmen können, ist Dorothee Biehl überzeugt. Sie rechnet in den kommenden Wochen mit noch mehr Anfragen bei ihrer Beratungsstelle. Und: mit Menschen, denen nach der Begleichung der Gasrechnung das Geld für Nahrungsmittel oder Babywindeln fehlt. Oder die gar nicht erst in der Lage sind, die Nachzahlung zu leisten – vor allem in der Gruppe von Arbeitnehmern mit geringem Einkommen, die bisher gerade so hingekommen sind.
Heizkostenzuschuss beantragen: Wem steht jetzt wie viel Geld zu?
Schon im Herbst hatten Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände geraten, in solchen Fällen zu prüfen, ob ein einmaliger Anspruch auf Bürgergeld besteht (siehe unten). Das Jobcenter Remscheid hat dafür extra einen vereinfachten Antrag, der auf Internetseite des Jobcenters abrufbar ist. Ein vergleichbares Formular hatte der Verein „Wuppertaler in Not“ als zu kompliziert kritisiert. Dorothee Biehl hingegen meint, die Remscheider Variante sei für die meisten Menschen zu bewältigen: „Ich glaube, das ist okay so.“
Das sieht auch Sven Heidkamp, stellvertretender Geschäftsführer des Remscheider Jobcenters, so. „Die bisherigen Erfahrungen mit diesem Antrag sind positiv“, sagt er. Weil weniger Angaben und auch weniger Anlagen erforderlich sind, sei er für Antragssteller wie Mitarbeiter leichter zu handhaben.
„Ich gehe davon aus, dass mit einer weiteren Zunahme zu rechnen ist.“
Heidkamp berichtet von gestiegenen Antragszahlen bei seiner Behörde. Und erwartet sogar noch mehr: „Ich gehe davon aus, dass mit einer weiteren Zunahme zu rechnen ist, solange noch nicht alle Abrechnungen durch die Energieversorger und Vermieter erstellt worden sind.“
Doch nicht nur Energiekosten seien ein Problem, betont Dorothee Biehl von der Caritas. Auch ohne Strom- und Gas-Nachzahlungen hätten viele Remscheiderinnen und Remscheider heute schon finanzielle Probleme, berichtet sie. „Wir schauen in jedem Fall individuell, was wir tun können.“ In Frage kämen zum Beispiel Einzelfallhilfen oder Anträge an Stiftungen. Zudem gebe es einen Notfallfonds des Erzbistums Köln, aus dem die Mehrarbeit der Berater bezahlt wird, aus dem aber auch Menschen unterstützt werden, die Hilfe brauchen, aber nicht im Leistungsbezug sind.
„Und wenn Kinder im Spiel sind, gibt es die Notbremse“, weist Biehl auf ein schon vor Jahren gegründetes Projekt verschiedener Sozialverbände aus Remscheid und Wermelskirchen hin. Unter dem Motto „Wir fragen nicht nach Ursachen: Kinder haften nicht für ihre Eltern“ werden aus Spenden Schulbedarf, Kleidung und anderes bezahlt. „Auch da verzeichnen wir inzwischen deutlich mehr Anträge“, sagt Dorothee Biehl.
Zudem gibt es Hilfe zur Selbsthilfe. Das Online-Portal das-steht-dir-zu.de hält Infos und teils auch Online-Rechner zu staatlichen Leistungen wie Kinderzuschlag, Wohngeld oder Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket bereit. Hier könne man leicht eventuelle eigene Ansprüche prüfen, sagt Dorothee Biehl: „Es ist immer gut, wenn die Leute nicht den Kopf in den Sand stecken.“ | Standpunkt
Einmaliger Bürgergeld-Anspruch
Hohe Heizkosten-Nachzahlungen können bei Menschen mit niedrigem Einkommen zu einem Anspruch auf Bürgergeld für einen Monat führen, wenn die Nachzahlung den Gesamtanspruch entsprechend erhöht. Ein Paar mit Kind bis zu fünf Jahren hätte beispielsweise Anspruch auf 1271 Euro Bürgergeld plus Miete und Heizen, zusammen zum Beispiel 1790 Euro. Verfügt diese Familie mit Kindergeld über ein anrechenbares Einkommen von 2000 Euro, stehen ihr normalerweise keine Leistungen zu. Kommt nun aber eine Heizkostennachzahlung von 600 Euro, erhöht sich der Anspruch in diesem Monat auf 2390 Euro, die Differenz zum Netto-Einkommen von 390 Euro trägt das Jobcenter. Wichtig: Der Antrag muss innerhalb von drei Monaten gestellt werden.
Standpunkt von Sven Schlickowey: Halt nur früher
Es sei an dieser Stelle noch mal betont, weil man es nicht oft genug sagen kann: Wenn Menschen ihre Strom- oder Gasrechnung nicht mehr bezahlen können, hat das nur selten etwas mit individueller Schuld zu tun, es ist in der Regel ein gesellschaftliches Problem. Und deswegen hat die Gesellschaft auch die Aufgabe, dies zu lösen. Was dabei nun zutage tritt, ist das, was schon seit vielen Jahren schiefläuft. Dass nämlich Menschen trotz Arbeit sich und ihre Familie kaum mehr ernähren können, das hat die Energiekrise quasi nur vorverlegt.
Bei Krankheit, Scheidung oder anderen Schicksalsschlägen, spätestens aber im Alter, wäre es in dieser Personengruppe ohnehin dazu gekommen. Mit mehr Wohngeld, höherem Bürgergeld und anderen Zuschüssen zahlen wir nun den Preis dafür, dass man spätestens ab 2002 einen Niedriglohnsektor nicht nur gedudelt, sondern sogar gefördert hat. Jetzt halt nur etwas früher.